top of page

Sexuelle Bildung ist politische Bildung

  • Autorenbild: daniloziemen
    daniloziemen
  • 11. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

Die Sexualität des Menschen ist wie auch der Mensch von Natur aus gesellschaftlich geprägt. Sie ist zugleich individuell und sozial bestimmt. So haben seit jeher Gruppen und Staaten Sexualität reguliert: Wer darf wen heiraten? Wer darf wie Kinder großziehen? Ab wann dürfen Jugendliche Sex haben? Wie wird mit queeren Lebensweisen umgegangen? Welche Regelungen gibt es zum Schwangerschaftsabbruch? Diese und viele weitere Fragen zeigen: Sexualität ist kein privates Randthema, sondern immer politisch. Sexualität wird stets im Spannungsfeld von Werten, Normen und Moral verhandelt. Die Philosophin Bettina Stangneth stellt fest: Es herrscht Einigkeit darüber, dass Sex zu gefährlich sei, um unkontrolliert zu bleiben.


Was macht sexuelle Bildung zu politischer Bildung?

Sophie Schmitt (s. hessische jugend 2/2024) beschreibt politische Bildung als subjektorientiert: Sie befähigt junge Menschen (und Erwachsene), ihre Lebenssituation ins Verhältnis zum Politischen zu setzen. Menschen sollen in die Lage gebracht werden, politische Prozesse zu verstehen, Mitbestimmung und Partizipation einzufordern und zu leben sowie Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.


Auch sexuelle Bildung erfüllt diese Funktionen. Sie fördert sexuelle Selbstbestimmung und ist heute, in verschiedenen Begrifflichkeiten, fester Bestandteil in allen Lehr- und Bildungsplänen sowie vielen Aus- und Weiterbildungen. So ermöglicht sexuelle Bildung sexualitätsbezogenes Besprechen, Reflektieren und Lernen in unterschiedlichsten Kontexten: im Sexualkundeunterricht, im Gespräch über Datingerfahrungen unter Peers oder auch bei der Diskussion im Jugendverband, wer bei der nächsten Ferienfreizeit in welchem Zelt übernachten darf.


Um die politische Dimension sexueller Bildung zu verdeutlichen, lohnt der Blick auf den Begriff selbst. Karlheinz Valtl bestimmt den Begriff der sexuellen Bildung, indem er fünf zentrale Kennzeichen benennt.


Sexuelle Bildung ist erstens selbstbestimmt: Sie schafft Bedingungen, sodass die Lernenden bei ihrer Weltaneignung gut begleitet werden und ihre Autonomie somit gefördert wird. Gerade in Zeiten der zunehmenden sexuellen Selbstaufklärung durch und mit digitalen Medien ist es wichtig, Kompetenzen einer kritischen Mediennutzung zu fördern.

Zweitens hat Sexuelle Bildung einen Wert an sich. Es gilt nicht nur etwas zu verhindern (Schwangerschaft, Übergriffe usw.), sondern auch die sexuellen Kompetenzen von Menschen zu fördern. Sexualität als Wert an sich kann ein unmittelbarer Lebensgenuss und zentrales Moment des Selbstwertes sein.


Des Weiteren ist sexuelle Bildung konkret und brauchbar. Das heißt, sexuelle Bildung wird konkret und lebensnah, wenn Jugendliche sich in geschützten Räumen mit ihren eigenen Fragen, Erfahrungen und Unsicherheiten auseinandersetzen können – etwa in einem Workshop während eines Jugendzeltlagers zum Thema „erstes Mal“, Einvernehmlichkeit und Verhütung. Solche Erfahrungen stellen gelebte Bildungsgüter dar, an denen sexuelle Kultur praktisch erfahrbar und gestaltbar wird. Dabei sollen die Zustände nicht nur hingenommen, sondern bewertet und ggf. verändert werden.


Viertens spricht sexuelle Bildung den ganzen Menschen an: Es geht um alle Lebensalter; alle Kompetenz-Ebenen werden gefördert (z.B. emotionale, kognitive und Haltungsebene) und der Mensch wird als Ganzes angesprochen. Dies meint u.a. auch seine gesellschaftliche Positionierung.


Und schlussendlich – fünftens – ist sexuelle Bildung politisch: Sie ist ein Produkt von Gesellschaft und beeinflusst Gesellschaft.

Recht auf sexuelle Bildung

Das Recht auf sexualitätsbezogene Bildungsmomente für junge Menschen musste erst erkämpft werden. Der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß zeigt, dass sich besonders Schüler_innen in der BRD in den 1960ern dafür eingesetzt haben, dass es schulische Sexualaufklärung gibt. Sie haben aktiv für das Recht auf Wissen auch im Sexuellen gestritten. In der DDR war die schulische Sexualaufklärung dagegen unstrittig und wurde von oben bestimmt. In beiden Staaten gab es gleichwohl Vorstellungen von „richtiger“ und „normaler“ Sexualität. Allein schon dieser kleine historische Blick zurück zeigt, wie das Sexuelle stets gesellschaftlich verhandelt wird.


Die heute geläufigen sexuellen und reproduktiven Rechte leiten sich bereits von dem 1946 durch die WHO formulierten Gesundheitsbegriff ab und wurden seitdem auf verschiedene Wege festgeschrieben, so z.B. im Jahr 2011 in der in Kopenhagen beschlossenen WHO-Regionalstrategie für sexuelle und reproduktive Gesundheit für Europa. In Deutschland leitet sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung bereits aus den ersten beiden Artikeln des Grundgesetzes ab: Die Würde des Menschen ist unantastbar und jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Um sexuelle Bildung qualifiziert und diversitätssensibel umsetzen zu können, hat das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (frühere Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) Standards der Sexualaufklärung formuliert. Diese werden in Broschüren für die gesamte Bevölkerung in verschiedenen Sprachen zugänglich gemacht und vertrieben.


Alle oben beschriebenen Sachverhalte zeigen, wie politisch sexuelle Bildung ist. Seit Beginn der Diskussionen gibt es jedoch Akteur_innen, die behaupten, dass Sexualität reine Privatsache und sexuelle Aufklärung allein das natürliche Recht von Familien sei.

Wie viele andere gesellschaftliche Bereiche gerät auch die sexuelle Bildung zunehmend unter Druck. Multiplikator_innen, die zu verschiedenen Vielfaltsthemen und/oder zur kindlichen Sexualentwicklung arbeiten, müssen mit Angriffen und Störungen ihrer Veranstaltungen rechnen. Die AfD stellt in den Landtagen und zuletzt im Bundestag Anfragen zum Thema frühkindliche Sexualerziehung. Das Ziel ist nicht Diskussion und Aufklärung, sondern Diskreditierung und Durchsetzung einer menschenverachtenden Ideologie. Die Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp) hat in einer Stellungnahme darauf hingewiesen, dass die altersangepasste Thematisierung von Sexualität sowohl national als auch international ein Recht eines jeden einzelnen Menschen ist. Sie weist ebenso auf Studien hin, die zeigen, wie wichtig sexuelle Bildung für Prävention ist.


Qualität sexueller Bildung

Die benannte Wirkung sexueller Bildung kann nur eintreten und für alle wirksam sein, wenn sie kontinuierlich evaluiert und potenziell angepasst wird. Nur so kann sie ihre Qualität in Bezug auf Standards, Inhalte und Methoden sicherstellen. Dazu braucht es eine wissenschaftlich fundierte Sexualwissenschaft und offene (Werte-)Diskussionen, um immer wieder gemeinsam für die Förderung der sexuellen Selbstbestimmung zu kämpfen. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die sexuelle Bildung – ebenso wie die politische Bildung – nicht neutral ist. Sie richtet sich an den sexuellen und reproduktiven Rechten und damit an der Würde des Menschen aus.


Für die Praxis lässt sich daraus der Auftrag einer klaren Positionierung für sexuelle Bildung in all ihren Facetten ableiten, z.B. auch für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Es bedeutet auch, Widerstand auszuüben, wenn diese Rechte infrage gestellt werden, und gleichzeitig aktiv und solidarisch nach Verbündeten und Vernetzung zu suchen.

Für Multiplikator_innen in der Jugend(verbands)arbeit kann dies an der Basis bedeuten, das eigene Handeln zu reflektieren und den Wertekanon des eigenen Verbands transparent zu machen und zur Diskussion zu stellen. Es sollte bedeuten, auf diskriminierende Äußerungen zu reagieren, den Wert sexualitätsbezogener Bildungsprozesse und das Recht auf sexuelle Bildung zu erklären und – wenn notwendig – zu verteidigen.


 
 
 

Comentarios


bottom of page